The WanderingSoul's profile

Alles, das ich nicht bin (German Writing)

Alles, das ich nicht bin
[German Writing]
Der Mann und das Meer (Selbst-Portrait)
Ich weiß nicht, was sich von dem, das ich geschrieben habe, zugetragen oder nicht zugetragen hat. Weiß nicht, was ich davon tatsächlich erlebt, oder es mir nur erträumt und erdacht habe. Ich weiß es nicht, weil sich alles gleich anfühlt; und das, was ich mit meinen Worten festgehalten habe, ohnehin wirklich wurde. So wirklich und nahe, dass mir manchmal, wenn ich schreibe, zumute ist, als wäre ich ganz wo anders, wüsste zwar nicht wo, aber dass ich irgendwann einmal davon zurückkehren müsse.
2022/10/02, Vom Schreiben
Kapitel I | Stimme der Vergangenheit

Ein lautes Klingeln schreckt mich auf, reißt mich abrupt aus meinen Gedanken. Seltsam, denke ich mir noch, dass ich augenblicklich dann angerufen werde, wenn ich überhaupt einmal zu erreichen bin. Jemand muss es häufiger bei mir versucht, oder genau diesen Moment, geleitet von irgendeiner unbekannten Kraft und Wissen der Welt, erahnt haben. Ausgerechnet bei mir. Ich zögere einen Moment, nehme schließlich an. Die Nummer ist mir nicht bekannt, bei einem Kontakt hätte ich vermutlich gar nicht angenommen. Ich bejahe, schweige aber ansonsten erstmal, wie ich mir das seit einer Weile angewöhnt habe. Eine etwas seltsame Angewohnheit, gestehe ich mir ein, die ich mir vielleicht angeeignet habe, um herauszufinden, ob und wie mein Gegenüber auf eine Irritation reagieren, vielleicht ja etwas preisgeben wird, das zuvor nicht beabsichtigt worden war. Ein wenig so, als ginge es darum stets die Überhand zu behalten, in der besseren Position zu sein. Nur wofür? Doch auch auf der anderen Seite weder eine richtige Begrüßung noch ein Name, nur die Worte, dass etwas geschehen sei und ob ich denn herkommen könne, um beim Aus- oder Aufräumen, so genau habe ich es nicht verstanden, des Hauses zu helfen. Auch ohne einen Namen weiß ich, wer da zu mir spricht, zu vertraut klingt die Stimme am anderen Ende der Leitung. Seltsam vertraut, gleich wie viele Jahre vergangen sein mögen, seit ich sie das letzte Mal gehört hatte. Vielleicht war sie mir insgeheim nie nicht vertraut gewesen. Dass ich sie immer schon gekannt, wieder und wieder gehört hätte. Vielleicht vor allem im Stillen. Jene der Gedanken, und der Welt um mich herum, seit wir uns nicht mehr sahen. Und still, still war es seitdem gewesen. Für einen Moment zieht es mich in die Vergangenheit, zurück an einen fernen, fast vergessenen Ort. Einen, den ich kaum kannte und seltsamerweise doch immer vermisste. Ich bin verwundert, dass ich gefragt werde, habe ich doch nie daran glauben können, noch einmal von ihr zu hören. Gehofft schon, nur das Glauben war mir nicht gelungen. Das Haus, dem sie sich nun scheinbar annehmen will, vielleicht muss, auch daran erinnere ich mich. Eine stete Unordnung darin, zu viele Habseligkeiten, die sich, vielleicht weil man sie nicht aus der Hand geben konnte oder wollte, angehäuft hatten. Ein Zuviel, das ihr schon damals missfallen, sie sich sogar immer ein wenig dafür geschämt hatte, so als könne ein Besucher nicht zwischen ihr, und einem Haus unterscheiden. Noch dazu nicht einmal ihrem, sondern dem der Eltern. Die Vorstellung, dass man besser nie wieder in den Keller hinuntergehen sollte, denn wer könne schon wissen, was darin verborgen sein, längst darin hausen könnte, hatten wir damals aber beide lachen müssen. Ich gebe mir einen Ruck, unterbreche mit einem Räuspern mein Schweigen, und sage, dass ich verstehe und erkundige mich vorsichtig nach den Hintergründen. Sie bleibt vage, wie sie es mir, oder vielleicht allen gegenüber, das hatte ich leider nie herausfinden können, schon immer ein wenig gewesen war. Dann seufzt sie, so als hätten sie diese wenigen Worte bereits erschöpft, und schließt mit den Worten, dass es so ausschaue. Ich erinnere mich, es sind die Worte, die wir immer sagten, wenn wir aus Verlegenheit nicht mehr weiterwussten, oder uns einfach nur mit Gesagtem einverstanden erklären wollten. So schaut es aus, im Schneckenhaus. Eine Redewendung, aller Wahrscheinlichkeit nach aus Kindheitstagen. Ob aus ihrer, meiner oder unser beider, weiß ich nicht. Doch erwidere ich sie nicht, will es ihr nicht so einfach machen, nach all den Jahren. Vielleicht erinnert sie sich jetzt ohnehin daran, hat die Worte längst schweigend vollendet oder denkt an etwas ganz anderes. Bei Telefonaten, fürchte ich, bleibt leider so vieles im Unklaren. Noch mehr als dann, wenn sich zwei Menschen tatsächlich einmal gegenüberstehen. Und vielleicht mag ich es auch deshalb so wenig, das Telefonieren. Weil es nicht selten mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten scheint. Fragen, auf die aber dann, wenn es längst wieder still ist, unmöglich eine Antwort gefunden werden kann. Dass sie ohnehin immer nur Ersatz für ein Gespräch sein können, habe ich einmal in einem Buch gelesen. Das hat mir gut gefallen. Ich hake nicht weiter nach, sage nur, dass ich morgen im Laufe des Tages da sein werde. Ich sage nicht bei ihr oder dort, sondern, so neutral wie mir jetzt noch möglich, da. Dass das gut wäre, meint sie zum Abschied. Dann ist es still, fast plötzlich wie es mir vorkommt. Dass sie mir gefehlt hätte, murmle ich noch in die stumme Leitung hinein. Wo ich bin, hat sie gar nicht gefragt, weiß sie eigentlich längst nicht mehr, wo ich wohne, noch dass ich gerade hunderte Kilometer in der Ferne bin. Dass ich nun aufbrechen und durchfahren werde, so als wäre das selbsterklärend, eine Selbstverständlichkeit, weiß sie ebenso wenig. Und es ist, irgendwie, für mich zumindest. Vielleicht ahnt sie, dass ich es mir früher tatsächlich gewünscht hatte, einige Tage zusammen mit ihr auf dem Hof der Eltern zu verbringen. Als gehörte ich tatsächlich dorthin, an einen bestimmten Ort, hätte tagsüber vielleicht sogar ein wenig zu tun, bestenfalls mit meinen Händen. Etwas, von dem irgendetwas verbleiben würde, später einmal, von mir oder den Bewohnern, als eine Veränderung wahrgenommen würde. Eben ganz anders als bei dem, womit ich meine Tage für gewöhnlich verbringe, nun fast schon mein ganzes Leben lang. Vielleicht hätte ich einfache Tischlerarbeiten übernommen, Brennholz für den Winter geschlagen oder wenigstens eine der Wiesen ums Haus herum gemäht. Das alles aber ohnehin etwas voreilig, bin ich noch längst nicht dort. Ich trete nach draußen, blicke auf die Bucht und das Meer hinunter, Wind und Gezeitenrauschen in den Ohren, und frage mich, was und wer wohl aus ihr geworden ist, in den vergangenen Jahren. Dass sie noch immer so schön, oder noch schöner sein könnte, und wir aber doch weiterhin nicht füreinander geschaffen sind, damit könnte ich leben, träumte ich doch trotzdem schon so lange von Vergangenem. Doch Angst habe ich gewiss, dass sie nur noch ein Schatten sein, die Zeit und das Leben zu tiefe Spuren hinterlassen haben könnte, müsste ich damit schlussendlich auch ich meine Träume begraben. So, wie das eigentlich, über kurz oder lange, noch jedem von uns geschieht. Diese Träume, getragen haben sie mich. Vor allem in die Ferne, und dabei weiter, als ich es früher für möglich gehalten hätte. Sie allein, ganz ohne, dass jemand außer mir davon wusste.

Manchmal habe ich von Dir geträumt. Die Gewissheit, dass Du es warst, der ich in der Nacht begegnet bin, spürte ich am Morgen, wenn ich erwachte, als erstes. Ich verspürte sie, diese Gewissheit, als Form der Irritation, waren wir uns doch längst seit Jahren fremd und unbekannt. Alles, das mich den Tag über schon unzählige Male begleitet hatte, fühlte sich nun anders an. Nicht lebendiger, stattdessen ein Schatten, der über allem hing, sich still auf mich gelegt hatte. Träume, in denen ich stets nur Abbilder des Vergangenen erlebte. Ich irrte umher, suchte nach Dir und wenn ich Dich fand, führte doch kein Weg an dem vorbei, das Du zur mir gesagt hattest. Selbst Träume, von denen wir beide geglaubt hatten, alles wäre möglich darin, zogen sich zurück, wendeten sich beinahe beschämt von uns ab. Sie scheiterten, nicht anders als wir das getan hatten, erschöpften sich an der Wirklichkeit. Zumindest jener Wirklichkeit, in die Du uns beide hineingeworfen hattest. Wenn schon Träumen nicht gelang, was wir nicht vermochten, wäre das nicht Grund genug gewesen, das Träumen aufzugeben?
Von der Gewissheit der Träume, 2021/03/01
Kapitel II | Aufbruch

Einen letzten Blick werfe ich auf den Strand hinunter, einen Hauch Sehnsucht im Inneren, auch wenn sich der drohende Abschied längst dazu gesellt. Ich spüre, wie er sich ausbreitet, Besitz von mir ergreift. Jener Strand, an dem ich einige Tage verbrachte, dort auf Sonnenuntergänge wartete, tagsüber über Stunden den Wolken zusah, flüchtig ankommende und umhergehende Spaziergänger musterte, mich dabei aber doch am meisten auf die innere Welt, die Stille und doch nicht Stille von Dämmerung und Mondnacht freute. Innere Welt, so habe ich es irgendwann genannt. Sie, die sich zeigt, wenn wir in der Welt alleine sind, nur wir selbst es sind, die, vielleicht weil wir etwas ahnen, einmal stehenbleiben, den Laut unserer Schritte verhallen lassen, aus uns hinaussehen und, aufmerksam und voller Staunen, die Natur um uns beobachten. Seit ich hier bin, hatte ich den weiten Strand, umgeben von schroffen Klippen auf der einen Seite, dem meist rauen, aufgebrachten Meer auf der anderen Seite, nicht selten ganz für mich alleine. Gewundert habe ich mich dann, dass so etwas überhaupt noch möglich ist. Dass ich einen Ort, der so groß und schön ist, trotz der vielen Menschen auf der Welt ganz für mich alleine haben kann. Vielleicht nicht für immer, aber wenigstens für diese Augenblicke. Ich wende mich ab, muss mich fast dazu zwingen und lasse mich in den Fahrersitz hineinfallen. Mein Zuhause, mein Wohnzimmer. Wie oft schon ist es mir als ein solches vorkommen. Dass ich, fast als würde ich tatsächlich in einem sitzen, hätte eine Fernbedienung in der Hand, den Fernseher vor mir, dann, wenn ich etwas anderen sehen wollte, nicht das Programm, aber einfach den Ort ändern würde. Dass ich davonfahre, irgendwohin, und eben das, was ich durch die Fenster sehe, zu etwas anderem werden lasse. Der Motor stottert ein wenig, springt an, findet schließlich seine Ruhe, treu wie er mir gefolgt ist, mich bislang nie im Stich gelassen hat. Vielleicht ist jeder Abschied ein Verlust, geht mir durch den Kopf. Weil etwas unwiederbringlich verlorengeht, selbst wenn wir, auch wenn ich es an diesem Ort nicht war, unglücklich wären. Es heißt, dass jeder Aufbruch einen Zauber innehabe, doch mich beschleicht, davon scheinbar unberührt, das Gefühl, so als hätte ich etwas vergessen, versehentlich zurückgelassen. Ein ums andere Mal grüble ich, gehe in Gedanken meine Habseligkeiten durch, prüfe ihr Vorhandensein an meiner Seite und werde das Gefühl trotzdem nicht los. Es hat Jahre gedauert, um zu begreifen, dass ich jedes Mal den Verlust von dem Menschen, der ich an diesem Ort gewesen war, spürte, so als wäre ich es, den ich da hinter mir ließ. Schließlich, auf zunächst kleinen Wegen in Richtung Landesinnere fahrend, im Rückspiegel kein Winken, habe nie jemanden hier gekannt außer Strand und Möwen. Auf Euch, murmle ich, weiß aber selbst nicht, ob ich diesen Ort oder etwas ganz anderes damit meine. An ihre Eltern muss ich denken, habe gar nicht erfahren, wie es ihnen geht, wird mir erst jetzt bewusst. Ihre Eltern, die ich zwar kaum kannte aber nie vergessen hatte und nur zu gerne einmal wiedergesehen hätte. Ich hatte sie, vielleicht weil sie für lange Zeit die letzten waren, denen ich vorgestellt wurde, unweigerlich als einen Teil von mir verstanden. Und doch war es mir nicht gelungen, diese kleine Welt, die ich zwar bei mir trug, aber kein Teil mehr von ihr sein durfte, erneut zu betreten. Manchmal aber hatte ich mir vorgestellt, dass ich kurzerhand auf eigene Faust dorthin zurückkehren und schließlich vor ihnen stehen würde. Dass ich, in der Hoffnung nicht unmittelbar wieder, schlimmstenfalls von lautstarker Empörung oder zumindest wortlosem Unverständnis begleitet, fortgeschickt zu werden, zu einer von mir zuvor sorgsam zurechtgelegten Erklärung ansetzen könnte. Bestenfalls der Wahrheit. Die, dass ich das Unterwegssein nie aufgegeben und vieles in der Welt gesehen habe. Dass ich, nichtsdestotrotz, aber oft den Wunsch verspürt hatte, einmal hierhin zurückzukehren und dem Ort aus meiner Erinnerung nachspüren zu können. Schlicht und einfach, weil ich das bislang noch mit jedem Ort so gehalten hätte, an den ich mich erinnern könne. Solange, bis entweder er, oder ich nicht mehr bin. Nichts daran wäre gelogen gewesen; aber ob sie es verstanden hätten?

Ich mochte, was Du einmal über die Zeit geschrieben hattest. Ich weiß nicht mehr, wann ich es gefunden und gelesen hatte. Irgendwann in einem Herbst, vor zahlreichen Jahren, vermutlich. Dass Du Dir manchmal wünschtest, sie würde stillstehen. Stillstehen, wenn Du es tatst. Ich habe darüber nachgedacht, wieder und wieder. Ich glaube, sie tut es sogar, stillstehen. Wenn wir alleine sind, allenfalls von jemandem begleitet, mit dem wir schweigen können. Wenn wir dann still sind, und lauschen, dann geschieht vieles um uns herum aber mit Zeit hat es nichts zu tun. Für einen Moment, bis ein anderer zu uns hereinbricht oder wir selbst es sind, die etwas sagen, damit Stille und Schweigen durchbrechen, das Unbekannte vertreiben, steht sie still. Bis sie wieder voranzuschreiten beginnt, erst stetig aufholt und schließlich wieder gleichmäßig vergeht, fast dahintröpfelt. Wir können uns ausklinken, nicht lange vielleicht, aber dass es möglich ist, ist gewiss.
Vom Stillstehen, 2022/03/26
Kapitel III | Das Haus am anderen Ende der Welt

Ich bin später, da kannten wir uns allenfalls noch in Gedanken, tatsächlich einmal etwas schüchtern an ihrem Elternhaus vorbeigefahren. Ich hatte flüchtig einen traurig-sehnsuchtsvollen Blick von der Straße hinüber zum Haus und den großen Bäumen geworfen. Eine geschwungene Einfahrt, an der einen Seite an einem Bach entlang, auf der anderen von einer Wiese gesäumt, darin ein Mittelstreifen, der, die Fahrspuren durch die Last der Traktoren zu beiden Seiten etwas abgesunken, immer ein wenig am Unterboden kratzte. Dahinter, das jahrzehntealte Haupthaus, ein unmittelbar angrenzender Stall und zwei etwas einsam danebenstehende, scheinbar einsturzgefährdete Scheunen, die bereits damals, ihrem Aussehen nach, zu viele Tage hinter sich gebracht hatten. Außen herum, vor allem auf der Rückseite, eine Handvoll Obstbäume, die, verkorkst wie sie waren, vermutlich schon seit längerem nicht mehr geschnitten worden waren. Auch ein großer Walnussbaum, vielleicht war es auch eine Kastanie, müsste mitten im Hof gestanden haben. Ein Baum als Mittelpunkt, der während der Winterstürme immer bedrohlich schwankte, zumindest hatte ich mir das von ihm gerne so vorgestellt. Einer, der Herbst für Herbst den Innenhof mit seinem Laub und Nachwuchs bedeckte, wieder und wieder in guter, vielleicht auch mittlerweile längst verzweifelter Erwartung an die Zukunft. Damals gab es noch etwas Vieh, Kühe oder vielleicht auch ein paar Schweine, glaube ich. Dazu, in Sichtweite, ein großer Gemüsegarten und wenige Äcker, die es zu bestellen galt. Der Eingang zum Wohnhaus war nicht unmittelbar für mich zu erkennen, lag bei der Ankunft linkerhand, glich eher einem kleinen Scheunentor mit einer unscheinbaren Öffnung darin. Im Inneren ging es zunächst über groben Boden hinweg, provisorisch bedeckt von Latten und etwas Karton. Dann, die Dunkelheit rasch hinter sich lassend, hinein in die Küche, in der im alten Herd immer ein Feuer brannte, ein Essen zum Warmhalten darauf. Angrenzend, ein heller Wohnraum, schöne ältere Fenster mit Blick auf das Land vor dem Haus, und die Landschaft dahinter. Ich glaube, ihre Großmutter hatte ihn bewohnt. Etwas zurück im Inneren, nun die Treppe hinauf, Stufen wie auch Holzdielen, die ebenso müde wie verratend knarzten, ein wenig wie in einem Film. Tiefe Dachträger, an denen ich mir versehentlich den Kopf anschlug, die wenigen Male, die ich dort hinaufgestiegen war. Das Innere, weder schmutzig noch verwahrlost, schlicht ein wenig in die Jahre gekommen. Kümmern hätte man sich wohl etwas müssen. Wenn man die Zeit dazu gehabt hätte. Zeit. Als könnte man mit ihr, an seiner Seite, alles an und in der Welt berichtigen, wieder in Ordnung bringen. Und vielleicht ginge das sogar. Nur ausgerechnet mit dem nicht, was zwischen zwei Menschen ist, denn dafür müssten wir sie auch umkehren können. Und vor allem, haben werden wir sie wohl ohnehin nie. Einfach nie genug von ihr. Vielleicht ist das der Grund, weswegen wir überhaupt sind und existieren, denke ich mir manchmal. Dann, bei meinem zweiten und letzten Besuch, als wir beide längst keine Zeit mehr hatten, betrat ich das Haus nur flüchtig, fühlte mich schon etwas fremd, grüßte verhalten und versuchte die höflichen Fragen der Mutter, die zwar nett und doch eine Spur reserviert war, so gut wie möglich zu beantworten. Ihr Dialekt, er hatte mir Schwierigkeiten bereitet, hatte ich doch zu wenig Zeit gehabt, mich an ihn zu gewöhnen. Immer ein wenig unbeholfen fühlte ich mich, auch wenn ich, selbst aus einer ganz anderen, fernen Gegend kommend, wohl kaum etwas dafür konnte. Auch wenn ich sie nicht immer verstand, mochte ich sie, trotz dessen, dass sie mich wohl für den Falschen an der Seite ihrer Tochter hielt. Ich galt, trotz Studium und Beruf, ein wenig als Herumtreiber. Einer, auf den ihre Tochter, weil es ihn manchmal in die Ferne zog, nicht zählen, sich nie vollkommen auf ihn verlassen könnte. Heute bin ich mir sogar sicher, dass sie wusste, dass ich es wusste. Und Recht, Recht sollte sie letztlich, wenn es auch ein wenig anders kam, behalten. Ein Sommertag war das gewesen, kurz nach einem Gewitter, das mich an einem unserer früheren Lieblingsorte überrascht hatte, mich durchnässte und ich, einmal seltsam ausgelassen und etwas lachend, erst zu einem nahen Unterstand gerannt war. Im Anschluss, die Wiesen und Felder in der zurückgekehrten Sonne dampfend, nahm ich wohl den Sommerregen und meine plötzliche Ausgelassenheit zum Anlass und wagte es, sie tatsächlich einmal anzurufen. Sie war, ich weiß nicht wieso, ausgerechnet an diesem Tag, dieser Stunde, diesem Moment, mit der Bahn unterwegs. Unterwegs hierher, auf Heimatreise. Das kann unmöglich Zufall sein, dachte ich mir sofort. Am Bahnhof wartete ich, hier, wo ich schon im Frühjahr einmal auf sie gewartet hatte, mir, in der damaligen Kälte lange hin und hergehend, dem Tanz der Schneeflocken unter dem Laternenlicht zusehend, die Zeit vertrieben hatte, weil ich wieder einmal viel zu früh losgefahren war. Doch es war anders, dieses Mal. Sie war anders. Wir begrüßten uns zurückhaltend, sie nicht ohne Vorwurf, ich nicht ohne Sehnsucht. Nach einer kurzen Umarmung, die keine war, fuhr ich uns nach Hause, entlang der Landstraßen, dem Schloss, das ich immer gerne einmal mit ihr erkundet hätte, und durch die Wälder, in denen wir spazieren gewesen waren. Zuhause angekommen, nahm sie mich nach oben mit und als sie sich umzog, hatte ich, mit dem Rücken zu ihr, aus dem Fenster zu sehen. Ich weiß noch, dass das im Inneren brannte, hätte ich sie doch am liebsten angesehen, wie es immer schon gerne getan hatte. Aber ich verstand. Und vielleicht, oder sogar vermutlich, hätte ich in diesem Moment gehen, alles hinter mir lassen müssen. Doch ich blieb, und nach einem kurzen Essen streiften wir gemeinsam ums Haus. Erst ihren Vater, mit der Sense beim Mähen der Wiese, sahen wir, dann Katzen, über die sie sich immer ärgerte, weil sie selbst im Haus umherstreunen durften, so als sei das ebenso ihr Zuhause. Wir wanderten auf der alten Bahntrasse entlang, scheuchten ein Reh auf, das im hohen, ausgetrockneten Gras ausgerechnet vor uns beiden floh. Auch wenn ich nichts davon wissen konnte, es sollte das letzte Mal sein, nachdem sie schon so oft Lebewohl gesagt hatte. So oft, dass ich dabei längst nichts mehr fühlte, nur auf Einsamkeit wartete und darauf, dass sie vielleicht doch zurückkehren würde. Zurückkehren, so hatte sie es genannt, nicht ich. Als könne man das. Als wäre ausgerechnet ich jemand, oder etwas, ein wenig wie ein Ort, zu dem ein anderer zurückkehren könnte. Hatte oder wollte sie nicht verstehen, dass bei uns die Zeit, und auch wir Menschen, nur eine Richtung kennen? Immer weiter entfernt voneinander. Ferneinander, habe ich das später einmal genannt. Und manchmal fragte ich mich, wieso es uns Menschen immer fort, nicht zueinander trägt. Wirklich anders hatte ich es nie erlebt. Ein wenig wie Lebenslinien auf einer Handfläche, oder meinetwegen die Umlaufbahnen von Planeten. Bahnen, die sich, selbst dann, wenn sie sich für einen kurzen Moment berühren sollten, niemals wieder aufeinandertreffen würden; oder schlicht zu viel Zeit dazwischen vergehen müsste. Wenn überhaupt, dann hätten wir uns vielleicht neu erfinden können. Ähnlich vielleicht, das schon, und doch nicht mehr gleich. Beide spazierten wir in unseren Zwanzigern, so als wären wir gute zehn Jahre jünger, es immer schon gewesen oder einfach geblieben. Nur, dass wir uns damals, als wir tatsächlich noch so jung gewesen waren, nicht gekannt hatten. Es schien mir für den Moment nahezu so, als wollten wir nachholen, was uns früher nicht möglich war. Unweit einiger Birken, die den Weg zu einem der wenigen Nachbarn in Sichtweite säumten, blieben wir für einen Moment stehen. Ich blickte zurück und fragte mich, wie es wohl wäre, wenn wir stattdessen beide hier leben würden. Tag für Tag bei der Arbeit zu helfen, sich am Abend, erschöpft und etwas verschwitzt, im Garten unter dem Wasser einer Regentonne zu erfrischen, an lauen Sommerabenden vespernd beisammen hinter dem Haus zu sitzen, den Schwalben oder vielleicht Erzählungen oder witzigen Anekdoten zu lauschen. Jemand für ihren kleinen Bruder sein, der, so schien mir manchmal, einen Gleichgesinnten, einen zum Herumtoben oder einfach nur zum Reden brauchen könnte. Still, wie vor allem ihr Vater meist zu anderen schien. Nicht reden, sich nicht mitteilen zu können, selbst dann, wenn es am Wichtigsten wäre, hatte sie wohl von Zuhause übernommen. Gegen diese Unbekannte, das Unausgesprochene zwischen uns beiden, das immer zwischen den wenigen Worten zu lauern schien, hatte ich oft angekämpft. Anfangs noch in kleinen Schritten, mit Fingerspitzengefühl, später dann nicht selten von Wut, und schließlich Enttäuschung begleitet. Über mich hatte sie dagegen einmal gesagt, es störe sie, dass ich an nichts so richtig glauben könne, doch meinte sie wohl eher, dass ich mich zwar ebenso tragen ließe, nur leider von anderem. Vom Licht zwischen den Bäumen an einem Februarmorgen, dem Klang geschriebener Worte, dem Gefühl lebenslanger Einsamkeit. Nicht, dass sie diese Dinge nicht auch gesehen und gefühlt hätte, aber sie zu ihrem Leben zu machen, das wollte sie nicht. Aber dafür, dass sie ebenso sehen konnte, dafür hatte ich sie geliebt. Im Streit, vielleicht dem einzigen den wir hatten, warf sie mir einmal vor, dass es zwar durchaus sein könne, dass ich ein Träumer sei, doch wenn, dann leider einer, der nie über sich selbst hinauskäme und alles immer nur um ihn kreise. Dass aber gerade das Träumen eben auch für Zwei gelernt sein müsse, und es auf keinen Fall nur dabei bleiben dürfe. Man müsse voranschreiten, stetig am Leben wachsen. Wohin wachsen, hatte ich mich dann gefragt, wenn wir ja doch nur uns selbst bleiben. Doch trotz, oder gerade wegen der früheren Vorwürfe, malte ich mir, während wir noch immer hier standen und für einen Moment einem Landwirt bei seiner Arbeit zusahen, aus, wie es gewesen wäre, schließlich in der Nacht mit ihr nach oben zu verschwinden, ihren Kopf auf meiner Brust ruhend zu spüren, ihrem Atmen zu lauschen. Darüber wie dahinter, vielleicht sogar ein kurzer Sommerregen, der vor den Fenstern niedergegangen wäre. Einer, den man, seines nahenden Geruchs wegen, schon lange ahnen könnte, bevor er überhaupt zur Realität geworden wäre. Ein unverwechselbarer Duft der Regentropfen auf Asphalt und Wiesen, aber auch der Welt. Ein Regen, der, so schrieb ich einmal, Träume und Einsamkeit aus Welt und Himmel spült. Und auch ihr Duft, nicht anders wie Sommerregen, den ich nicht zu beschreiben vermochte, aber doch immer wiederzuerkennen schien; und wenn es nur sein Fehlen war. Kurz darauf, die Birken bereits weit in der Distanz, hielten wir auf einer alten Eisenbahnbrücke, die einen Bach überspannte, erneut inne. Sie, auf den breiten, etwas morschen Schwellen stehend, ich, frei übers Geländer balancierend, sahen wir eine Eidechse, die sich hier gerade noch gesonnt hatte und eilig im Gleisbett verschwand. Dann sagte sie mir, dass sie sich neu verlieben wolle, es kein Uns mehr gäbe und auch nicht mehr geben würde. Ich schluckte, sagte, fast trotzig, vielleicht doch den Tränen näher als mir lieb war, dass das für mich nicht wichtig wäre, ich sie ja schließlich trotzdem mögen würde. Nicht, weil ich das, was sie mir da sagte, nicht respektieren und ebenfalls auf Abstand gehen würde, sondern weil ich wusste, dass ich sie weiterhin bei mir tragen würde. Sie, von der ich schon wusste, dass ich sie ein Leben lang vermissen werde, als ich sie das erste Mal sah. Vor wenigen Jahren, am Hauptbahnhof stehend. Jener Ort, an dem wir uns eigentlich immer sehen wie verabschieden sollten. Vielleicht war mein Leben weniger in der Ferne, als an Hautbahnhöfen verlaufen. Oder hätte es zumindest sollen, denke ich heute darüber. Umarmt hatte sie mich wenig später, wir zum Abschied wieder neben dem Haus bei meinem Wagen angekommen und ein letztes Mal dort stehend. Gemeinsam einsam. Und eben deshalb hatte ich da schon nichts mehr gefühlt, war bereits fort von hier. Vor und hinter meinen Augen fielen meine Träume und der Hof langsam zusammen, lösten sich auf, bis um mich herum nichts mehr übrigblieb. Das Dach senkte sich, die Ziegel, voller Moos und ersten Sprüngen, stürzten, erst in der Mitte, dann schließlich an den Seiten herab, zerbrachen lautlos am Boden. In einer heftigen Sturmnacht knickte das Dach ganz ein, alte Holzträger kamen zum Vorschein, die lange nur von Erinnerungen getragen wurden, nun aber keinen Halt mehr fanden. Der Regen, dem wir so gerne gelauscht hatten, fiel nun ungebremst hinein, in all die Räume, in denen ich ja doch nie lebte. Nichts blieb, außer mir selbst. Ich zog mich zurück, von einem Raum zum anderen, bis irgendwann nur noch ein letztes Zimmer und schließlich keines mehr verblieb. Ein mehr oder weniger geordneter Rückzug, anfangs noch fest daran glaubend, dass alles schon irgendwie und irgendwann wieder gut werden würde. Später dann aber an gar nichts mehr so wirklich glaubend, dem Zuhause entrissen. Ein wenig wie mit dem Herzen, der Seele. Ich fuhr davon, so wie ich es immer tat. Erst einmal in die nächste Stadt, um dort einsam umherzustreifen, irgendwie und irgendwo Halt zu finden. Für einen Moment sah ich sie noch, nun im Rückspiegel, alleine neben dem großen Haus. Abschied. Dann war sie verschwunden. Zumindest, was die Bilder vor meinen Augen anging. Bis sie heute Morgen, als Klang einer Stimme, aus der Erinnerung zurückkehrte und damit zu etwas anderem wurde. Ich weiß noch, dass es mich seinerzeit furchtbar aufgeregt hatte, dass sie es war, die Lebewohl sagen und auch noch dabei weinen konnte. Es schien mir nicht gerecht, Zuflucht in Floskeln und Tränen suchen zu dürfen, die mir selbst nicht gegeben waren.

Gefehlt hattest Du mir bereits von der ersten Sekunde an, wie ich Dich damals sah. Am Hauptbahnhof wartend, kalt und sonnig war es gewesen, bis der Zug endlich einfuhr. Du bist etwas weiter hinten ausgestiegen, hast Dich suchend und ein wenig unsicher nach mir umgesehen. Bis heute habe ich nicht verstanden, wieso Du die weite Reise ins Ungewisse, und zu mir, überhaupt auf Dich genommen hattest. Kaum gekannt hatten wir uns da. Dann hast auch Du mich gesehen, wir lächelten etwas verlegen, und ich hatte gewusst, dass ich Dich ein Leben lang mögen, und ungemein vermissen werde.
Vom Vermissen, 2021/07/17
Kapitel IV | Unterwegs in der Nacht

Wie viele Male ich in den letzten Jahren nun schon in derselben Richtung unterwegs gewesen bin, weiß ich längst selbst nicht mehr. In leichten Variationen zwar, mal hier und dort ein neues Ziel, das hinzugekommen war, fuhr ich doch meist, über weite Teile, dieselbe Strecke. Anfangs fast pfeilgerader Landstraßen folgend, links und rechts davon zahllose Bäume, die bereits im frühen März zu den Fenstern hineinduften, schon in der ersten Abenddämmerung dunkler als die Nacht zu sein scheinen. Schließlich, Ölfackeln der Schwerindustrie am Horizont, die Nächte zum Tag werden lassen. Ein ums andere Mal, so zerstörerisch es vielleicht sein mag, nicht ohne auch eine Spur beeindruckend zu sein und vor allem, einem Leuchtfeuer gleich, mir den Heimweg weisend. Später dann, vor und nach der ersten Grenze, hunderte Kilometer weit durch Ödland, um diese Zeit nichts als vereinzelte Lastwagen unterwegs. Fernfahrer, wie sie genannt werden, mit denen ich das Endlos-durch-die-Nacht-fahren gemein habe und mich ihnen vielleicht deshalb seltsam verbunden fühle, so als wäre ich einer von ihnen. Sie, die mir ab und an signalisieren, dass vor ihnen die Straße nun frei wäre und ich gefahrlos an ihnen vorüberziehen könne. Immer weiter in die Nacht, und mich selbst hinein. Zwei Seiten der Müdigkeit habe ich erfahren. Die, bei der die Zeit plötzlich stillzustehen scheint, kaum ein weiterer Kilometer, eine weitere Minute vergehen mag, solange, bis mir das Wachsein nahezu unerträglich ist. Und die, bei der ich plötzlich begreife, wie weit ich schon gekommen bin, ohne mich daran erinnern zu können, wie ich überhaupt hierher gelangt war. So, als wäre nicht ich, sondern ein anderer am Steuer gesessen, hätte uns beide, mich und mich, zielsicher und wortlos durch die Nacht und die Ferne gefahren. Wer, wenn nicht ich selbst kann das gewesen sein? Doch auch Müdigkeit vergeht, habe ich irgendwann gelernt. Nur weiter in sie hinein muss ich fahren, auf die Morgendämmerung und den nächsten Sonnenaufgang warten, einfach niemals anhalten. Sekundenschlaf, er übermannt nicht, kündig sich stattdessen, beinahe schon höflich, an. Eine ungeahnte, unendliche Müdigkeit ergreift erst langsam, dann immer stärker Besitz, bis all das Reden, die frische Luft oder laute Musik nicht mehr zu helfen vermögen. Dann sind wir für einen Augenblick fort, erwachen mit einem Schrecken und sind jetzt doch einmal für Sekunden bei überraschender Klarheit. Doch da ist keine Verwunderung oder Angst, sondern ein Wiedererkennen, wie bei einem alten Freund. Und ich verlasse mich auch dieses Mal darauf, dass er sein wird, was er verheißt. Sekundenschlaf. Wenn ich schon kein Leben hatte, kann ich auch den Verlust einzelner Sekunden verschmerzen, denke ich mir manchmal in einem Anflug von jugendlichem Leichtsinn, der heute wohl eher Starrsinn gleicht. Doch spät in der Nacht ist manchmal ohnehin weit und breit kein anderer mehr unterwegs. Und mir ist, als wäre unentdeckt die Welt untergegangen, hätte nur vergessen mir Bescheid zu geben, dass nichts außer mir selbst darin verblieben ist. Ist das nicht seltsam, dass wir, wenn wir auf diese Weise alleine unterwegs sind, ohne ein Dazwischen zu existieren scheinen, nur ein Anfang und Ende haben? Wir brechen auf, verlassen einen Ort und sind, einer Kapsel gleich, plötzlich ebenso unsichtbar wie unbestimmt. Wir fahren solange unerkannt dahin, bis wir ankommen, an irgendeinem Ort, und von anderen gesehen, vielleicht sogar wiedererkannt werden. Plötzlich gibt es ein Davor und Danach. Und uns selbst. Die Zeit beginnt von neuem an. Im Bruchteil einer Sekunde holen wir auf, was vergangen ist, als wir alleine gewesen waren. Und wenn wir, falls das irgendwie im Leben möglich wäre, nicht und nie gesehen würden, hätten wir vielleicht nicht einmal ein Anfang und Ende. Kein Blick, vor dem wir uns fürchten, niemandem, dem wir uns erklären müssten, oder, falls wir es wollten, überhaupt könnten. Nichts für einen anderen sein, nichts für uns selbst sein. Vielleicht ist das allein der Zauber und die Magie des rastlosen Unterwegsseins.

Hieße miteinander zu schreiben nicht, sich zu erzählen, dass man an- und voneinander gedacht und geträumt habe? Wären Briefe, vor allem aus der Ferne, damit nicht immer auch ein Wagnis, vielleicht sogar Geständnis? Darin, ein wenig verborgen und insgeheim doch sichtbar, die Frage und innige Hoffnung, dass all das auf Gegenseitigkeit beruhen möge. Wenn ich Dir geschrieben hätte, ich hätte mich damit gleichsam aus dem Fenster gelehnt, mich in unbekanntes Terrain hineinbegeben. Und während Du, von alledem unbemerkt, weiter Dein Leben gelebt hättest, mein Brief unterwegs zu Dir gewesen wäre, ungewiss, ob er Dich und sein Ziel überhaupt erreichen würde, wäre mir doch so zumute gewesen, als wären wir beide wieder, ganz wie in früheren Tagen, in stiller Vertrautheit zusammen. Briefe schienen mir immer mehr als ein Gespräch zu sein. Ich konnte und wollte träumen darin. Gleich, ob von Dir, dem Leben oder der Sehnsucht. Ich glaube, diese wenigen Tage, in denen ich auf eine Antwort gewartet und es doch nicht getan hätte, wären mir die liebsten gewesen. Glücklich wäre ich gewesen, Dir etwas aus meinem Leben erzählt zu haben. Doch weil ich wusste, dass es das ist, was ich nicht durfte, schwieg ich. Nur, ich habe sie geschrieben, diese Briefe. Doch es waren Briefe ohne Briefe zu sein, weil ihnen das, was einen Brief ausmacht, immer fehlte: unterwegs zu sein. Ich legte sie stattdessen still auf einen großen Stapel zu meiner Rechten; dort, wo all die anderen nie gesagten Worte bereits auf ihr trauriges Vergessen warteten. Du hast einmal gesagt, dass wenn es Worte gäbe, die etwas hätten ändern können, ich es gewesen wäre, der sie gefunden hätte. Vielleicht war es tatsächlich das, wonach ich gesucht hatte. Aber ich fürchte jene, denen wir das meiste zu sagen haben, interessiert es am allerwenigsten; und den Wenigen, die uns zuhören würden, haben wir nichts zu erzählen.
Vom Miteinander schreiben, 2022/02/15
Kapitel V | Zwischenhalt bei Bekannten

Woher kommt der Glaube, der in den letzten Jahren mehr und mehr Besitz von mir ergriffen hat, dass jeder Mensch, dem ich begegne und begegnen werden, doch nicht der Richtige sein wird, geht mir durch den Kopf, irgendwo in der endlosen Mitte des Landes. Und was lässt uns glauben, dass wir einem anderen etwas zu erzählen hätten? Etwas, das dieser nicht nur hören wollte, sondern auch etwas damit anfangen, sich darin wiederfinden oder gar neues entdecken könnte? Und vor allem, wieso bin ich dann jetzt unterwegs, ausgerechnet zu einem dieser Menschen? Oder vielleicht ja gerade diesem einen Menschen, wegen dem mir all die anderen längst so fremd scheinen. Ich könnte umdrehen, ganz so, wie ich zu Beginn einer jeden Reise von Zweifeln erfüllt war. Immer kurz vor und nach dem Aufbruch, nur in umgekehrter Richtung. Angst hatte ich in der Ferne jeden Tag ohne Ablenkung nur mit mir selbst verbringen zu müssen, dort aus irgendeinem Grund nicht zurechtzukommen. Ausgerechnet ich, der doch ohnehin nie etwas anderes getan hatte, als die Tage alleine und nur für mich selbst mit Leben zu füllen. Ich könnte umdrehen, sicher, doch ganz gleich wo ich dann auch wäre, wäre ja doch noch immer ich selbst. Wie Pessoa, der einst schrieb, in allem wäre noch immer er selbst. Vielleicht der Inbegriff der Einsamkeit. Stattdessen halte ich für einen Moment an, hole tief Luft. Es ist einer der Orte, deren Namen ich nicht behalten kann, aber doch hin und wieder durch sie hindurchkomme. Einzelne Geschäfte darin, die meisten darunter schon seit Jahren geschlossen, mit etwas Glück aber auch eine Tankstelle oder gar eine Bäckerei, die den großen Krisen der Welt trotzten und die ich nun ansteuere, mich für die Weiterfahrt eindecke. Angestellte, die mit den Jahren scheinbar still und fast heimlich ein fester Bestandteil von mir und meinem Leben geworden sind. Ganz ohne, dass sie davon wissen können, erinnere ich mich an sie. Für mich sind sie, zahllose Male wie ich hier vorübergekommen war, längst Individuen, etwas Bestimmtes, das ich mit mir verknüpfe. Ich dagegen bin wohl nur einer von vielen, ein unbedeutender Teil der nahezu gesichtslosen, immergleichen Kundschaft, die Tag um Tag ihre Läden betritt. Manchmal hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihnen mitzuteilen, dass ich mich erinnere, mich freue sie wiederzusehen. Doch getan habe ich es nicht, noch nicht vielleicht, spreche ja auch genau genommen nicht einmal ihre Sprache. Vielleicht ist es das Schicksal aller Menschen, die zwar geliebt haben aber nie geliebt wurden, sich ausgerechnet an jene zu erinnern, von denen wir längst vergessen wurden. Sie hatte, wird mir nun gewahr, keinen Grund genannt, weswegen das Haus nun auszuräumen sei. Vielleicht waren ihre Eltern nun doch in die Stadt gezogen, sind es nun einmal die Kinder, die es, längst erwachsen geworden, in umgekehrter Richtung, zurück zu ihrem Anfang führt. Erst hinein, in das Laute aber auch Lebendige, dann, nach Jahren der Erfahrungen, aber wieder zurück, zurück zu Stille und Weite. Ich hoffe nur, dass nicht ein Verlust der Grund ist, fehlten mir doch genau dafür die Worte, habe ich nie etwas Wirkliches betrauern müssen. Wenn, dann allenfalls ihr Fortgehen, von dem ich mir manchmal gewünscht hatte, es gäbe ein Wort dafür. Dafür, zurückzubleiben, wenn der andere schlicht an das Leben verlorengeht; und man sich lange fragen wird, wieso man nicht gut genug war. Meine Eltern, sie verweilen noch immer im Haus meiner Kindheit. Ein wenig gealtert, das sicherlich, aber noch immer sind es, daran führt womöglich und insgeheim nie ein Weg vorbei, Eltern. Etwas mir Übergeordnetes mit dem ich, selbst wenn ich es nicht wollte und davonzulaufen versuchte, ja doch verbunden bliebe. Längst erwachsen genug eine eigene Familie zu gründen, beinahe schon darüber hinaus, bezeichne ich sie gedanklich, wenn ich doch einmal nach einer Familie gefragt werde, schlicht und einfach als meine elternseitige Familie. Sie, die mir ganz ohne mein Zutun an die Hand gegeben wurden, es mir deshalb vielleicht unmöglich schien, einmal Danke zu sagen. Vielleicht aber auch, weil ich es mir zu meinem Ziel gemacht hatte, allem und jedem aus dem Weg gehen zu wollen. Vielleicht ist diese Reise überhaupt das erste Mal, dass ich nicht länger davonlaufe, mich stattdessen etwas stelle, das mich zum Bleiben bringen könnte. Weil ich nichts mehr von ihr wusste, hatte ich mir vorgestellt, dass sie längst verheiratet wäre, schon kurz darauf, nachdem wir getrennter Wege gegangen waren, jemanden fand, bei dem sie, wenn vielleicht nicht unbedingt glücklich, doch zufrieden sein konnte. Vielleicht, nach kurzem Warten, auch ein oder zwei eigene Kinder. Ein Lebensgefährte, der fest mit beiden Beinen im Leben steht. Einer, den es nicht ständig in die Welt hinauszieht, der wochenlang nichts von sich hören lässt, wenn weder Post noch Empfang Worte nach Hause tragen können. Vielleicht hätte ich das auch sein können; aber genug wäre es wahrscheinlich nicht gewesen, für keinen von uns beiden. Ich hatte weiter angenommen, dass sie, gemeinsam wie sie sind, in eine größere, geräumigere Wohnung gezogen waren. Hinein in eine ruhige Gegend etwas außerhalb des Zentrums, nicht länger die Stadtbahnen und die Rufe der Nachtschwärmer vor dem Haus, stattdessen nun Nachbarn, die Namen haben, und das Grün eines nahen Parks, der zumindest ein wenig an die Heimat, das Land, zu erinnern weiß. Ein Zuhause, wie es viele ihr Eigen nennen können. Und wahrscheinlich gibt es all das sogar. So, oder in leichten Variationen. Und ich erinnere mich, dass sie früher, als wir noch daran glaubten jetzt und später einmal alles anders zu machen, immer gerne, mit einem Zeichenblock und einer alten Kamera ausgerüstet, in die Gegend hinausgezogen war und dort, fern des Alltags und der Verpflichtungen, nach Schönem suchte. Eigentlich hatte es damals, gleich wie abgelegen oder versteckt, keinen Winkel, keinen besonderen Blick auf die Stadt gegeben, den sie nicht gekannt hätte. Und natürlich will ich glauben, dass sie auch heute noch daran Gefallen findet, die Zeit dafür erübrigen kann, bin ich es doch selbst nie müde geworden. Sie, in ihrer, und ich, in einer anderen Stadt. Dass zwar die Städte und Orte verschiedene gewesen sein mögen, nicht aber die Zeit.

Dass sie sich an früher, und uns, erinnerte, konnte ich mir, anders als ein mögliches Zuhause, kaum von ihr vorstellen, hatten doch auch vereinzelte Nachrichten, dass sie an mich denke, ein schnelles Ende gefunden. Ich hatte still die Abstände betrachtet, ihr Ende schon lange zuvor vorhergesehen und mich vor allem gewundert, was so ein Denken schon bedeuten kann, wenn sie ja doch keinen Schritt in meine Richtung unternommen hatte. Nicht viel, vermute ich, aber was waren wir auch schon gewesen, wenn nicht eine verspätete Jugendliebe, bei der vielleicht ohnehin immer ein wenig unklar geblieben war, weswegen zwei so verschiedene Menschen zueinander gefunden hatten. Vielleicht gibt es dafür, dass wir vereinzelt ein Stück des Weges gemeinsam gehen, keinen, oder jeden Grund der Welt, sage ich mir. Im Zweifel wenigstens den, dass alles später einmal so sein kann, wie es ist. Aber dass das auch für mich gelten soll, darüber bin ich mir selten sicher. Doch wenn wir uns sehen sollten, in wenigen Stunden, ich würde nicht danach fragen, will manchmal selbst, auch wenn das mehr als ungewöhnlich für mich ist, nicht mehr an der Vergangenheit rühren.

Ich zahle nun, hatte in einer der Ortschaften angehalten, nehme Baguette und Croissants in Empfang. Warm sind sie noch, früh am Morgen wie es ist. Ich lächle zum Abschied, so gut mir das gelingt, trete hinaus, nehme Platz und bin zurück auf der Straße, in Richtung Morgendämmerung und Sonnenaufgang. Die Wahrheit ist: ich habe mein ganzes Leben lang geglaubt, dass ich, wenn ich schon alleine und dabei meist einsam bin, wenigstens unterwegs und in der Ferne sein müsste. Als wäre das ein Ausgleich, ein angemessenes Leben. Aber es stimmt schon, vielleicht ist es das sogar; auch wenn ich gar nicht so genau weiß, woraus dieser Glaube entstanden war. Vielleicht ist am Ende auch jedes Leben gleich gut, ungeachtet davon, ob wir es nun unter Menschen, oder niemandem verbrachten. Aber wenn ich mir wirklich sicher wäre, wäre ich jetzt vermutlich gar nicht unterwegs, hätte den Anruf nicht entgegengenommen oder zumindest alles verneint und zum Abschied geschwiegen. Nicht selten hatte ich mir gewünscht, dass es mir leichter fallen würde, ein Schweigen zu erwidern, ich nicht immer geglaubt hätte, dagegen anreden zu müssen. Gerade dann, wenn jedes weitere Wort nur eines zu viel war und alles nur schlimmer, die Distanz immer größer werden ließ. Und als ich es dann konnte, wurde es nur noch stiller um mich herum. So still, dass ich mir wünschte, ich hätte nie damit aufgehört an Worte zu glauben.

Während weiter, und von allen Gedanken unbeirrt, Kilometer für Kilometer an mir vorüberziehen, frage ich mich nun doch, ob das überhaupt möglich sein kann, dass wir noch immer vertraut sind. Und das nur, weil ihre Stimme danach geklungen, von mir als mir nahe wahrgenommen wurde. Ich meine, wie viele Worte sind wohl nötig, um zu wissen, ob man einen Menschen leiden und für ihn empfinden kann? Doch auch ohne eine Antwort zu finden, taucht vor mir eine weitere Landesgrenze auf, die ich überqueren muss. Der Beamte winkt mich an die Seite, irgendetwas muss ich über die Jahre an mir haben, das sie misstrauisch werden lässt. Wenn ich nicht nach einem Schmuggler oder Kurier aussehe, dann vielleicht, dass an mir nichts Besonderes ist. Mit diesem älteren, eigentlich trotzdem gewöhnlichen Auto, das kaum jünger ist, als ich selbst. Der Beamte sieht ausdruckslos zu mir herein, mustert rasch und geübt mich und mein Zuhause. Für andere, auf den ersten und vermutlich auch den zweiten Blick, sicher ein Chaos, für mich meine, sagen wir, geordnete Unordnung. Was er sieht und denkt, behält er für sich, nickt nur knapp in Richtung Weiterfahrt. Harmlos also, irgendwie auch kein besonders nettes Attribut, mit dem er mich bedenkt und gehen lässt. Ich beschleunige, sehe gleichwohl im Rückspiegel nach, ob mir nicht vielleicht doch noch jemand folgen könnte. Noch immer liegen hunderte Kilometer vor mir. Aber, was sind schon Entfernungen in Kilometern?

Und wenn ich Dich nun vergessen hätte? Ganz so, wie Du mich? Wenn ich nicht um die halbe Welt gereist wäre, tausende Kilometer und zahllose Jahre zwischen Dich und mich gebracht hätte. Nur, um noch immer an Dich zu denken, mich Deiner zu erinnern. Wenn ich einfach ebenso weitergegangen, gelebt und geliebt hätte. In andere Arme hätte ich mich hineingelegt, den Geruch eines anderen Menschen eingeatmet und als Sehnsucht im traurigen Alltag bei mir getragen. Ich weiß nicht, ob ich nur nicht wollte; oder nicht konnte.
Vom Vergessen, 2022/02/26
Kapitel VI | Abenddämmerung

Ich biege zögerlich noch etwas vor dem nächsten Dorf, die Kirche darin bereits in Sichtweite, von der Hauptstraße ab. Es ist spät am Abend, fast schon Nacht, und meine Augen brennen, der Rücken schmerzt mir ein wenig von der langen Fahrt. Etwas Nebel liegt sanft auf den Wiesen, wohl als erste Ankündigung für den kommenden Morgen. Mein Scheinwerferlicht wandert hindurch und weiter entlang des Weges. Mein Herz klopft, hat es immer in ihrer Nähe, wird es immer. Ich rolle voran, bemerke, es ist nicht ganz wie in meiner Erinnerung. Der Weg beschreibt keinen einzelnen Bogen, stattdessen wenige Kurven. Tannen sind vor dem Haus, die ich wohl vergessen hatte, von einer Kastanie oder einem Walnussbaum ist nichts zu sehen und auch nur eine statt zwei Scheunen, die ich im Halbdunkel des Abends zu erahnen glaube. Ich habe einmal gelesen, dass wir, wenn wir unsere Erinnerungen bewahren wollten, uns gar nicht erst erinnern dürften. Wir müssten sie stattdessen still in uns vergraben, wie Träume, dürften nicht einmal daran denken, uns an sie zu erinnern. Wir müssten sie aufheben, verpacken wie ein Geschenk, und sie dann, nicht zur Feier des Tages, eher des Lebens, irgendwann ein einziges Mal wieder hervorholen. Andernfalls würde mit jedem Erinnern, jedem Versuch das Vergangene wiederaufleben zu lassen, aus dem, was da einst tatsächlich war, immer ein wenig etwas anderes werden. Vielleicht aber hat das auch sein Gutes, wenn sich die Menschen, die wir in Gedanken bei uns tragen, ebenso verändern, wie wir es tun. Dass wir damit jemanden an unserer Seite haben, der ebenso wenig stehenbleibt, sich stattdessen gleichsam wandelt, beständig zu etwas Neuem wird. Auf der Hauswand, ein Tor darin, kommt mein Licht schließlich zum Stehen, der Wagen verklingt, stattdessen eine Spur von Stille, der verhaltene Ruf eines Waldkauzes, irgendwo aus der Ferne. Kein Murren der Kühe, kein Hund, der, gleich ob freudig oder argwöhnisch, auf mich zugerannt käme. Nicht mehr, oder schon immer, frage ich mich, etwas ratlos in meinen Erinnerungen suchend. Ich bleibe sitzen, überlege, ob ich nun einfach hineingehen sollte, sehe vorerst aber lieber, etwas nervös, wartend und doch nicht wartend zum Fenster hinaus. Das Haus liegt im Dunkeln, und für einen Moment ist da nichts Besonderes und doch scheint mir vieles, vielleicht sogar alles möglich. Nicht länger das Meer vor mir, keine Küste, keine weiten Landschaften, nur das alte Tor. Noch könnte ich auch wieder fahren, behaupten es sei etwas dazwischengekommen oder einfach schweigen, so wie wir das all die Jahre getan hatten. Hatten wir doch, oder? Geschwiegen, statt zu erzählen. Sich einander fern, statt nahe zu sein. So, als wäre es darum gegangen, vielleicht als Spiel, oder doch Ernst des Lebens. Doch da geht das Tor bereits einen Spalt weit auf. Du stehst darin, im fahlen Dämmerungslicht. Auch von Innen fällt ein wenig Licht zwischen Deinen Füßen hervor, Dein Gesicht zur Hälfte im Dunkeln. Aber nein, Du bist kein Schatten. Allenfalls mein eigener. Nur ob das gut oder schlecht ist, weiß ich noch immer nicht. Einholen können wir unseren eigenen Schatten nicht; und bleiben doch stets mit ihm verbunden. Ich hoffe, dass es nicht nur mit den Füßen ist, mit denen wir manchmal davonlaufen, sondern auch dem, das wir in uns tragen.

Erst ein Sommergewitter, dann prasselnder Regen. "Werden wir uns denn nie nie nie wiedersehen", hast Du einst gefragt. Ob es noch so sehnsüchtig schlägt, Dein Herz? Wie Blitz und Donner in der Nacht. Schön wäre das doch gewesen, oder? Als Silhouetten am Fenster stehend, zahllose Blitze, die am dunkelblauen Nachthimmel zucken, das Rauschen des Windes in den Bäumen, bis der Regen es schließlich übertönt; und dabei doch kaum anders klingt. Nicht anders, nur eindringlicher. Im Inneren, nicht vor, sondern hinter dem Fenster, zurück die Federn, fast schon Morgen wie es ist. Mal im Dunkeln, mal für einen Sekundenbruchteil im Schein des Wetterleuchtens, würde ich mich wieder neben Dich legen, meinen Arm um Dich, den Kopf an Deiner Seite. Zusammen nach draußen sehen, hinein ins Sommergewitter, den Wind kühl auf der Haut. Sehen wir uns wirklich niemals wieder, schlägt Dein Herz denn nicht mehr für mich? Wenigstens für ein einziges Gewitter, den Sommerregen vor dem Fenster? Wenigstens dafür?
Von Gewittern und Regennächten, 2022/07/20
Kapitel VII | Zuhause

Vielleicht nimmt alles diese verworrenen Bahnen, diesen eigenartigen Lauf, weil wir auf immer unserem Schatten hinterherlaufen. Und was sind andere Menschen, wenn nicht Schatten, die wir selbst werfen. Unsere Vorstellungen, Träume und Sehnsüchte, die wir, weil wir sie nicht in uns selbst finden können, in all den anderen Gesichtern suchen. Vielleicht ist all das vergeblich, von Vornherein zum Scheitern verurteilt; und wir täten gut daran, mehr über das nachzudenken, was wir tatsächlich zwischen den Händen halten, heißt es doch, einer könne nie finden, wonach er suche. Dass manches nicht gesucht, nur gefunden werden kann. Aber, ich steige aus, und gehe einige Schritte in Deine Richtung. Schritte, die nicht wenige Meter, sondern zahllose Jahre sind. Jahre, die wir dabei aufholen, wie die Zeit, wenn sie einmal stehenzubleiben schien und erst im Anschluss ihren Gang wieder aufnahm. Nur, dass es sich jetzt beinahe so anfühlt, als würden sie, und die Zeit, von uns abfallen. Gleich, was auch immer jetzt geschehen mag, es liegt vor, nicht hinter mir, sage ich mir. Und vielleicht auch vor uns.

2022/03/30, in Erinnerung an Marie
Alles, das ich nicht bin (German Writing)
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